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Interview mit dem Düsseldorfer Multi-Talent Thomas Kessler
Interview mit dem Düsseldorfer Multi-Talent Thomas Kessler | (c) Carsten Linck

Der Düsseldorfer Thomas Kessler ist Komponist, Produzent, Pianist und Klangforscher im Bereich der intuitiv komponierten Musik. Am 19. Januar gibt es im Bürgermeisterhaus in Essen-Werden ein besonderes Konzert: „Thomas Kessler – Klavierfantasien“.

Am 21. Januar (11 Uhr) wird zum Anlass der offizielle Präsentation des Buches „Viersener Köpfe“ in der Viersener Stadtbibliothek eine Matinee mit Podiumsgespräch stattfinden. Im Interview mit dem Journalisten Reinhard Franke spricht Kessler über seinen musikalischen Werdegang.

Thomas Kessler im Interview mit Reinhard Franke

„Weniger ist mehr“

Herr Kessler, bei Wikipedia werden Sie als Jazzmusiker geführt. Dabei sind Sie viel mehr, nämlich Komponist, Produzent, Musiker und Architekt. Gibt es ein Hauptfeld, auf dem Sie sich gerne tummeln?

Es bedarf Kategorien, Schubladen und Stempel, mit deren Hilfe sich die Menschen ihren Blick auf die Welt sortieren können. So wurde ich in der öffentlichen Wahrnehmung zum „Jazzmusiker“, wohl weil der Jazz als eine moderne Musikrichtung gesehen wird, der ganz breit gefächerte Schnittstellen zu vielen anderen Stilistiken erlaubt. In meinem Fall sind das World Music, Elektronik, Funk, EDM (Electronic Dance Music), in jüngerer Zeit auch Moderne Klassik.

Vielen erscheint es einleuchtend, dass man nur dann Einzigartiges erreichen wird, wenn man seine gesamte Energie in ein einziges, eng umfasstes Spezialthema investiert. Das mag in Leistungssport und Wissenschaft durchaus zutreffen, sicherlich auch in vielen kreativen Bereichen.

Aber dort bieten sich ebenso großartige Alternativen für vielfältig Interessierte wie mich. Schon früh hatte ich erkannt, dass ich mich viel zu schnell langweile, wenn ich mich nur auf ein Thema fokussiere.

Mir erschien es zwar auch als reizvoll, auf irgendeinem Gebiet „der Beste“ zu werden, jegliche Wettbewerbsgedanken lehnte ich jedoch kategorisch als völlig unpassend in der Welt der Kunst und Musik ab.

Also konzentrierte ich mich darauf, der „beste Thomas Kessler“ zu werden, mit einer eigenen musikalischen Sprache, die sich in Kompositionen, Spielweise und Klangbild äußert. Auch nahm das Architekturstudium erheblichen Einfluss auf meine Musik.

Der „Weniger ist Mehr„-Gedanke der Bauhaus-Epoche faszinierte mich nachhaltig in allen Lebensbereichen. So viel wie möglich fließt davon auch in meine musikalischen Projekte ein. Ich arbeite konsequent daran, dass man nichts mehr wegnehmen kann, ohne dass es fehlt.

Von 2008 bis zur Auflösung der Band 2010 waren Sie Teil von TRANCE GROOVE. Damals sind einige Alben entstanden. Was war das für eine Zeit? 2019 gab es nochmal zwei Konzerte. Leider nicht mehr. Warum?

TRANCE-GROOVE-Gründer Stefan Krachten verstarb im Jahr 2014. Sein Tod hinterließ eine tiefe Lücke in Kölns kreativer Szene. 2019, also zum fünfjährigen Jahrestag, formierte sich der verbliebene Teil der Band noch einmal in Originalbesetzung.

Stefans Schlagzeugpart übernahm für diese Konzerte der Multiinstrumentalist Jürgen Dahmen, der Stefans besonderen Spirit auf ideale Weise weiterträgt. Jürgen spielte normalerweise das Rhodes-Piano, aber da die Band mit Helmut Zerlett und mir keinen Mangel an Keyboardern hat, war dies die Ideallösung. (lacht)

Die aktuell gute Nachricht ist, dass wir im November dieses Jahres, also zu Stefans 10. Todestag, mit gleichem Original-Line-Up wieder einige Konzerte spielen werden.

Von 2010 bis 2014 waren Sie Keyboarder und Co-Produzent von Stefan Krachtens Folgeprojekt GOLDMAN. Krachten ist 2014 verstorben. Er war ein treuer Begleiter für Sie. und wichtig für die Kölner Musikszene.

Durch Stefan lernte ich Ende der Neunziger Jahre die Szene um das Kölner Kunsthaus Rhenania kennen. Stefan verfolgte ein sehr klares künstlerisches Konzept, er war der unermüdliche Motor hinter vielen Projekten, mit zahlreichen Kontakten in Köln und auch international – zu CAN, Nico und der Londoner Musikszene.

Die beeindruckende Kraft, das Selbstbewusstsein und die Entschlossenheit seines Spiels setzten bei allen Mitmusikern auf der Bühne ungeahnte Kräfte frei. Diese Inspiration bestärkte mich in meiner Begeisterung für die Power, die aus der Reduktion auf das Wesentliche entsteht.

Bei jedem Auftritt erschufen wir aufs Neue musikalische Unikate aus dem Nichts. Als Produzent zog er den ungeschliffenen Diamanten dem Hochglanzpolierten vor. Damals war das noch das exakte Gegenteil meiner Herangehensweise, aber ich habe viel von ihm gelernt.

Zwischen 2009 und 2014 haben Stefan und ich ein Trance Groove- und drei Goldman-Alben als Team co-produziert. Zuletzt hat er mir seinen gesamten Bestand mit unvollendetem Material anvertraut. Daraus habe ich schließlich 2015, nach seinem Tod, noch das Vinylalbum „Goldman Live at the Blue Shell“ fertig gestellt.

Thomas Kessler | Portrait - (c) Thomas Kessler
Thomas Kessler im Interview | Portrait – (c) Thomas Kessler
Mainstream war nie Ihr Ding, oder?

Musik sehe ich vor allem als Kommunikationsmittel. Uns Menschen verbinden viele Gemeinsamkeiten, aber darüber hinaus gibt es noch die Wesenszüge, die uns zu etwas komplett Einmaligen unter den acht Milliarden Mitgeschöpfen machen.

Diese Besonderheiten interessieren mich speziell und ich überlege, wie sie als Soundtrack klingen würden. So gehe ich an die Arbeit. Mit meiner Musik setze ich eine Flaschenpost in die Welt mit der Botschaft, wie ich „ticke“. Erreiche ich damit Menschen, an deren Reaktion ich ablesen kann, dass ich emotional verstanden wurde, ist das für mich der größte Erfolg – völlig losgelöst von irgendwelchen kommerziellen Gedanken.

In den vergangenen Jahren haben Sie sich wieder mehr auf die klassische, zeitgenössische Klavier-Solomusik konzentriert. In der Ruhe liegt die Kraft?

Dieses Projekt, das inzwischen schon vier Soloalben hervorgebracht hat, ist im Grunde ein „Kind der Pandemie„, nach dem Motto „Düsseldorfer Musiker spielt – allein am Klavier – irgendwo auf der Welt ebenfalls allein in ihrer Wohnung bzw. im Homeoffice sitzenden Menschen einen privaten Soundtrack zu den leisesten Augenblicken ihrer Tage und Nächte“.

Die Kompositionen lassen bewusst viel Platz für die Phantasie der Zuhörer. Überall finden sich Freiräume für eigene Gedanken und Gefühle, mit denen sich die Klänge erst im Kopf der Hörenden zur vollständigen Musik verbinden. Wegen des Verzichts auf zu viel Komplexität eignet sich sowas perfekt als Begleitung bei Konzentrationsaufgaben oder auch zur Entspannung.

Am 19. Januar gibt es das besondere Konzert in Essen-Werden: Thomas Kessler – Klavierfantasien. Was sind Ihre Klavierfantasien?

Nun, eine Besonderheit ist, dass meine Solopiano-Auftritte echten Seltenheitswert haben. Es ist das erste Solokonzert seit fünf Jahren. Die Räumlichkeiten und besonders der Flügel im Bürgermeisterhaus haben mich völlig begeistert und so habe ich sehr gerne zugesagt. Besonderheit Nr. 2: Es wird nicht die Musik meiner Alben zu hören sein. Aus dem Moment heraus werde ich ein einziges, langes Stück entwickeln.

Ohne Netz und doppelten Boden!

Thomas Kessler

Die Methode des spontanen Komponierens habe ich vorhin schon mit Stefan Krachtens Ensemblearbeit beschrieben. Der Reiz dieses Musizierens „ohne Netz und doppelten Boden“ ist natürlich auch mit dem Risiko des ultimativen Scheiterns verbunden. In der Solo-Situation potenziert sich dieser „Thrill“ noch einmal: wenn sich keine Ideen entwickeln, wird’s zäh [lacht].

Wenn es aber gelingt, eröffnet sich allen Beteiligten die Möglichkeit, etwas ganz Besonderem, Einmaligen beizuwohnen: der Geburt eines Musikstücks, entstanden aus der stummen Kommunikation zwischen Publikum, Ort, Klavier und mir.

Diese Einzigartigkeit wird mir jedes Mal bewusst, wenn ich später Konzertaufnahmen anhöre. Dann staune ich regelmäßig, wie sehr sich die Abende unterscheiden. Ich glaube, den Menschen im Publikum ist das Ausmaß ihres Einflusses auf mein Spiel kaum bewusst.

Ein weiteres Projekt nennt sich „Viersener Köpfe“. Was hat es damit auf sich?

„Viersener Köpfe“ – das ist ein Buch von Torsten und Paul Eßer mit Geschichten über etwa 40 Menschen, deren Wurzeln in meiner Geburtsstadt liegen, und mir wurde die Ehre zuteil, einer von ihnen zu sein. Auf sechs sehr kurzweilig geschriebenen Seiten erfährt man dort das Wesentliche (nicht nur) über die ersten Schritte in mein musikalisches Leben.

Josef Kaiser („Kaiser’s Kaffee“), Till Brönner und Mirja Boes sind weitere Persönlichkeiten, die in den „Viersener Köpfen“ ausführlich vorgestellt werden. Zur offiziellen Präsentation des Buchs wird in der Viersener Stadtbibliothek am 21. Januar um 11 Uhr eine Matinee mit Podiumsgespräch stattfinden. Dort werde ich nicht nur über mich erzählen dürfen, sondern auch Musikalisches beisteuern: der Veranstalter hat sich „etwas Elektronisches“ gewünscht.

Unter dem Namen TK audiotreatments betreiben Sie seit 2008 in Düsseldorf ein spezialisiertes Mastering-Studio für die Musikrichtungen Acoustic, World, Ambient und Jazz.

Kommerzielle Mastering-Studios erledigen hauptsächlich den technischen Vorgang, eine Musikproduktion im letzten Bearbeitungsprozess des Audiomaterials „sendefähig“ zu machen, so dass es den entsprechenden Anforderungen des jeweiligen Mediums gerecht wird. Gestern hatte man dort vielleicht einen Ballermann-Schlager auf dem Tisch, heute einen Werbeclip fürs Fernsehen und morgen einen Death-Metal-Track.

Den ganzen Technikteil erledige ich selbstverständlich auch, dies jedoch mit der Besonderheit, dass ich Mastering ausschließlich für die Stilrichtungen anbiete, in denen ich selbst musikalisch zuhause und demzufolge urteilsfähig bin. Diese „leisen“ Musikgattungen haben ihre besonderen Kriterien, die manchen genre-fremden Toningenieur bisweilen überfordern.

Thomas Kessler & Group Thomas Kessler
Thomas Kessler & Group Album bei Amazon | (c) Laika (Rough Trade) (hier bei Amazon)
Kann man mit Klaviermusik heute noch Geld verdienen? Es ist schon sehr speziell, oder?

In Deutschland: problematisch. International sieht es zum Glück anders aus. 2010/11 habe ich die beiden ersten Soloalben des südkoreanischen Gitarrenvirtuosen Sungha Jung co-produziert. Er spielt Akustikgitarre – solo, ohne Gesang. Er war schon damals im asiatischen Raum ein Star, heute hat sein Youtube-Kanal 7,1 Millionen Abonnenten. Das hat meinen Horizont erweitert und Mut gemacht für das Klaviersolo.

Aktuell sitzt der größte Teil meines Publikums in den USA, Indien und Canada. Man interessiert sich wohl für meine Klaviertitel, weil sie für die Menschen dort die aktuelle Musik aus dem Land der Bachs und Beethovens verkörpern.

Diese Reichweite verdanke ich vor allem der Entwicklung von Streaming-Plattformen wie Spotify, Pandora und Youtube Music. Der heute oft beklagte Betrag von durchschnittlich „nur“ 0,3 ct pro Stream war für mich 2008, beim Start von Spotify, eine absolute Sensation im Vergleich zur vorherigen Situation, als man meinen gesamten Katalog komplett kostenlos von illegalen Servern runterladen konnte.

Noch weiter in der Vergangenheit: Als ich 2001, anlässlich eines New York-Besuchs, im WOM-Shop am Times Square eine meiner CDs entdeckte, wäre ich beinahe in die Luft gesprungen vor Glück. Für mein damaliges Label war es ein unfassbarer Aufwand gewesen, die Handvoll CDs, die ich schließlich dort verkauft habe, über den großen Teich zu schaffen. Seit damals hat sich für mich die Lage also klar verbessert.

Welche Projekte haben Sie noch? Sie sind ein „Hans Dampf in allen Gassen“.

Aktuell bildet die Klaviermusik meinen Arbeitsschwerpunkt. Ende des Jahres habe ich ein neues Instrument bekommen, ein Bechstein-Klavier. Darauf spiele ich mich gerade ein und arbeite an der Intonation und Mikrofonierung, bevor ich demnächst neue Aufnahmen angehe.

Parallel arbeite ich an einem elektronischen Ambient Music-Projekt, das der Förderung von Tiefenentspannung und Schlafstabilität gewidmet ist. Es ist ein Projekt mit starkem wissenschaftlichem Bezug, auf der Basis von Erkenntnissen aus Neurowissenschaft, Hörphysiologie und Psychoakustik. Gerade läuft ein Versuch mit einer Gruppe von Testhörern.

Anhand ihrer Erfahrungsberichte entwickele ich die Musik kontinuierlich weiter und hoffe auf eine Veröffentlichung noch in diesem Jahr. 2002 entwickelte sich eine Zusammenarbeit mit Wolfgang Flür, dem ehemaligen Schlagzeuger der Band Kraftwerk, mit dem Sie an dessen Yamo-Projekt arbeiteten. Das war sicher aufregend.

Es war eine kurze Episode, die vor allem entspannt und sehr lustig war. Wir haben die meiste Zeit in der Küche gehockt und bei Milchkaffee über die Welt geplaudert. Für mich war es sehr spannend, den Einsichten in die Kraftwerk-Welt aus Wolfgangs spezieller Perspektive zu lauschen.

Dann haben wir – eher beiläufig – nebenan in meinem Studio einige Gesangsspuren aufgenommen, ich habe noch ein paar Synthesizer-Tracks eingespielt und das Ganze zu einem Demo gemischt. Was daraus geworden ist? Ich weiß es nicht. Es stellte sich heraus, dass Wolfgang eher in Kraftwerk-typischen Veröffentlichungszyklen dachte („alle fünf Jahre ein Album“). Dazu war ich zu ungeduldig.

Wie hat sich die Musikszene verändert, wie schwer ist es für jemanden wie Sie die Musik an den Zuhörer zu bringen?

Eine wesentliche Veränderung ist die Tatsache, dass seit den 1980er Jahren eine kontinuierlich größer werdende Zahl von Musikproduktionen einer kaum gewachsenen Hörerschaft gegenübersteht. Das hat sich zum Teil aus der leichteren Verfügbarkeit der Produktionsmittel ergeben. 1980 kostete ein Tag im Studio noch 2.000 Dollar, heute lässt sich ein veröffentlichungsfähiges Album zuhause im Kinderzimmer am Laptop produzieren.

Gleichzeitig hielt das Recycling Einzug in die Musik, und so ermöglicht der Einsatz von Loops und Samples auch Produzenten ohne klassische Musikausbildung eine Teilhabe am Musikmarkt. So werden heute täglich etwa 100.000 Stücke neu auf Spotify hochgeladen.

Entmutigend, nicht wahr? Aber es gibt auch die andere Seite: ein Independent Artist kann ohne zwischengeschaltetes Label oder Verlag direkt mit internationalen Vertrieben zusammenarbeiten und behält alle Rechte und Einnahmen an seinen Stücken.

Das ist zwar viel Arbeit, erhält dem Künstler aber auch die weitestgehende Kontrolle über alle Aspekte der künstlerischen Gestaltung. Wenn man dazu noch eine klare Vorstellung von seinem Lieblingspublikum hat und es nicht schwerfällt, sich in deren Bedürfnisse und Sehnsüchte hineinzuversetzen, dann sind einige Weichen schon gut gestellt. Dazu noch etwas Social Media-Pflege, und der Eroberung der Musikwelt steht fast nichts mehr im Wege. Da hilft es mir, dass ich ein vielfältig interessierter Mensch bin. (lacht)

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Von Wildwechsel

Online-Redaktion des Printmagazin Wildwechsel. Wildwechsel erscheint seit 1986 (Ausgabe Kassel/Marburg seit 1994). Auf Wildwechsel.de veröffentlichen wir ausgewählte Artikel der Printausgaben sowie Artikel die speziell für den Online-Auftritt geschrieben wurden.

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