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Meister Selbfried (Corvus Corax)

Wildwechsel: Kaum ein anderes Stück der klassischen Moderne ist so ein Publikumsrenner wie Carl Orffs Vertonung der Carmina Burana – der eindringliche, fast beschwörende Duktus des Orffschen Werkes weist aber viel weiter zurück als bis ins Mittelalter, erinnert an archaische magische Rituale. Mittelalter-Musiker wie Thomas Binkley, das Ensemble Unicorn oder die Freiburger Spielleyt haben sich ja mit ihren Annäherungen an die große Liedersammlung aus Benediktbeuren bewusst vom Orffschen Gestus abgewandt, haben sich auf die Suche nach den Originalmelodien begeben und zurückhaltendere Vertonungen gewählt. Bei Eurer Neufassung springt die Nähe zu Orff dagegen deutlich ins Ohr – das Anfangsstück ist geradezu eine Hommage ans Orffsche „O Fortuna“. Eine Verbeugung vor dem Meister?
Meister Selbfried: Ja. Durchaus. Carl Orffs Werk ist uns gut bekannt und hat einen großen Anteil daran, dass wir vor ca. vier Jahren dieses Unterfangen begonnen hatten.

Wildwechsel: Habt Ihr Euch außer durch Orff auch noch durch andere Musiker bei Eurer Adaption des Werks inspirieren lassen?
Meister Selbfried: Ganz allgemein haben wir und neben Orff auch von Filmmusik inspirieren lassen. Es ist uns sehr aufgefallen, dass in Mittelalter- oder Phantasiefilmen fast nie Dudelsäcke oder andere Mittelalterinstrumente in der FIlmmusik vorkommen, warum nicht? Wir hatten auch ein klein bisschen den Ehrgeiz zu zeigen, dass ein großes Orchester mit schweren Klangbögen, wie es in der Filmmusik gang und g äbe ist, mit Dudelsäcken zusammen zu bringen ist.

Wildwechsel: In welchem Umfang wurde historisches Notenmaterial verwandt, was sind Eure Quellen?
Meister Selbfried: Bei diesem Werk haben wir kein historisches Notenmaterial verwandt. Alle
Melodien sind neue Kompositionen. Der jahrzehntelange Umgang mit mittelalterlichen Melodien ist uns aber sicher anzumerken. In dieser Struktur stecken wir halt sehr tief drin. Es ist auch ein willkommener Effekt, dass man vermutet, diese Melodien könnten echt mittelalterliche sein.

Wildwechsel:Die Carmina sind ja sehr umfangreich, so dass man eine Auswahl treffen muss. Nach welchen Kriterien habt Ihr die Stücke ausgewählt?
Meister Selbfried: Zuerst sollten die Texte zu uns passen. So wie wir immer schon Lieder oder Tänze ausgesucht haben. Sie müssen unseren Erfahrungen und Vorstellungen vom Spielmannsleben entsprechen. Also Saufen (Ergo Bibamus), Spielen, Minnen… – ein bisschen Biertischweltweisheit (Nummus) – eigentlich aus jeder Kategorie der Carmina Burana etwas.
Dass es jetzt gerade diese zwölf Texte in unsere Auswahl geschafft haben, ist fast Zufall. Da es aber noch so viele reizvolle Texte gibt, wird es mit allergrößter Wahrscheinlichkeit eine „vol II“ geben.

Wildwechsel: Ihr habt ja der großen Schar der heutigen Mittelalter-Rocker einst den Weg gewiesen. Das neue Album scheint sich aber fast schon programmatisch vom Rock-Idiom abzuwenden. Ist es jetzt genug mit „Dudelsack meets Zerrgitarre“?
Meister Selbfried:Nein. Tanzwut wird es weiter geben. Gerade jetzt stecken wir mitten in der Vorproduktion zum vierten Studio-Album. Das macht den großen Reiz unserer Arbeit aus, das wir in vielen Genres zuhause sind.

Corvus Corax

Wildwechsel: Wieso habt Ihr nur lateinische Texte verwandt und die mittelhochdeutschen Lieder außer Acht gelassen?
Meister Selbfried: Ich denke, in „vol II“ könnte auch ein mittelhochdeutscher Text dabei sein…

Wildwechsel: Das Magische, Ritualhafte, Gigantische ist bei Euch fast noch präsenter als bei Orff. Man fühlt sich geradezu überwältigt. Warum so wenige Momente des Innehaltens und der Besinnung?
Meister Selbfried: Wenn einem das Glück mal erreicht, dann hält man es mit beiden Händen fest und brüllt es heraus… Bei der Liebe innehalten?- Nee, nee! Vielleicht beim Bier oder Wein mal Ruhe finden… (Ergo Bibamus) Wir leben in Berlin, um uns herum quirlt es. Zu Besinnung komme ich tatsächlich erst auf dem Balkon meiner neuen Wohnung in der Abendsonne, einen Cocktail in der Hand…

Wildwechsel: Wird das Programm live noch erweitert? Warum kein „In Taberna“, da wartet die durstige Zuhörerschar doch sicher drauf? Zudem kennt man von Euch ja auch den Palästinalied-Ableger „Alte clamat Epicurus“ – wird der im Liveprogramm zu hören sein?
Meister Selbfried: Unsere Corvus Corax Klassiker, die Du hier anführst, haben wir nicht in dieses Programm eingebaut. Aber die Stücke, die jetzt auf die CD kommen, sind für die Live-Geschichte nochmal überarbeitet worden. Z.T. etwas länger, einige Improvisationsstellen, für den ersten Geiger oder uns als Dudelsackspieler oder die Trommler… zusätzliche Stellen für Alphörner, Obertonflöte, für das Orchestrion…

Wildwechsel:
Wie sieht die Live-Umsetzung aus – wird das Ganze ausschließlich als Konzert zelebriert, sondern auch noch durch eine Bühnenshow ergänzt? Was kann man erwarten?
Meister Selbfried: Man ist von uns gewohnt, dass es auch was für die Augen gibt, und eine Stunde lang ein Orchester ansehen ist nicht besonders aufregend. Selbstverständliche werden wir eine Lichtshow inszenieren, uns selbst gewohnter Weise verrenken und drehen…. und den Chor in Bewegung in setzen… das lassen wir uns nicht nehmen, ohne das wären wir nicht Corvus Corax.

Wildwechsel:
Chor, Orchester, Band und viel Technik drumherum – das klingt nach einer umständlichen und teuren Produktion. Die gibt’s in vollem Umfang sicher nicht oft zu sehen? Wann und wo?
Meister Selbfried: Ja, das ist in der Tat eine aufwändige Sache. Besonders schwierig ist es, diese verschiedenen Klangkörper zu koordinieren, weil sie alle irgendwie in einen Theaterbetrieb intergriert sind, der bis zu zwei Jahre im voraus plant.Dieses Jahr finden Aufführungen unserer Carmina Burana auf dem Wacken Open Air am 5.8. und innerhalb des Museumsinselfestivals vor der Nationalgalerie in Berlin am 19. und 20. August statt. Wahrscheinlich gibt es Carmina-Burana-Konzerte auch in diesem Jahr noch in München und in Düsseldorf, da laufen die Planungen. Für nächstes Jahr sind wir in Verhandlungen.

Wildwechsel:
Wir danken für die Antworten und wünschen viel Erfolg!

» Das Interview führte Dr. Lothar Jahn 

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Von Wildwechsel

Online-Redaktion des Printmagazin Wildwechsel. Wildwechsel erscheint seit 1986 (Ausgabe Kassel/Marburg seit 1994). Auf Wildwechsel.de veröffentlichen wir ausgewählte Artikel der Printausgaben sowie Artikel die speziell für den Online-Auftritt geschrieben wurden.

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